Gegenwärtige Weltlage

[jochen]

liebe Astrid,

ich kann dir das sehr gut nachfühlen.
Für mich ist das „Eli, Eli, lema sabahtami“ – Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
eines der bedeutendsten Jesusworte.

Ich hatte damit folgende Geschichte:
1986 habe ich eine sehr schmerzhafte Trennung erlebt.
Ich war wirklich am Boden zerstört, völlig am Ende, ohne jeden Lebensmut. Ich fühlte mich grenzenlos verletzt und verlassen.
Meine Schwester schickte mir damals einen Brief, in dem sie schrieb:
„Jetzt weißt du, wie sich Jesus gefühlt hat, als er am Kreuz rief: Eli, Eli, lema sabahtami!“

In diesem Augenblick machte es bei mir „klick“. Ich wußte plötzlich, Gott hat mich nicht verlassen. Gott hat nie jemanden verlassen, auch seinen Sohn nicht.
Der Schmerz war immer noch da, aber es war nicht mehr nur mein Schmerz. Und wenn man den Schmerz mit einem anderen teilt, ist man nicht mehr allein, nicht von allen verlassen. Mir war auch plötzlich klar, wie lächerlich gering mein kleiner Schmerz im Grunde war, und wie ich mich da reingesteigert habe.

Der tiefste Schmerz, den wir uns vorstellen können, ist der, von allem getrennt zu sein.
Ich konnte in diesem Augenblick das Gefühl von völliger Trennung, von verlassen sein, nicht mehr aufrechterhalten.

Und doch, wir alle kennen diesen Urschmerz.
Die Erinnerung daran geht wie ein Messer ins Herz.
Ohne die Erinnerung daran ist keine Heilung möglich.
Einen Irrtum kannst du erst dann berichtigen, wenn du dir die volle Tragweite dieses Irrtums bewußt machst. Wenn du alle Gefühle, die damit verbunden sind und die in allen möglichen Alltagssituationen wieder auftauchen, zuläßt.

Als Kind hat man mir erzählt: Gott ist in Jesus Mensch geworden, um uns zu erlösen.

Da ist was dran. Die Worte Jesu am Kreuz sind die Essenz dessen, was das Menschsein, oder mit den Worten des Kurses, das Körper-Sein, ausmacht: Das Gefühl, von Gott getrennt zu sein.
Das ist etwas, was jeder von uns kennt, was jeden von uns ganz tief berührt. Und dieses Gefühl: Was denn, der auch? macht Jesus erst wirklich zum Bruder. Das haut rein.

Das ist wirklich paradox: Dieser winzige Augenblick, in dem Jesus meinen Irrtum geteilt hat, hat mir vor Augen geführt, daß es ein Irrtum ist, an Trennung zu glauben.
Menschen kommen und gehen.
Jesus ist bei mir geblieben.
Selbst in meinem dunkelsten Moment hat er mir gezeigt:
„OK Junge, auch dort bist du nicht allein. Ich weiß, wie dir zumute ist.“
Ohne die Worte am Kreuz hätte ich ihm nicht geglaubt.
Ich hätte mir gesagt: Der hat gut reden, der weiß ja gar nicht wie das ist. Wie sich das anfühlt. Und hätte weiter gelitten und den Traum von der Trennung geträumt.

Selbst in unseren ärgsten Träumen sind Jesus und der Heilige Geist noch anwesend und bei uns. Wenn wir an Kreuzigung glauben, dann geht Jesus auch diesen Weg mit. Er ist immer bei uns, auch in der dunklen Nacht der Seele. Wenn wir dort stehen bleiben, bleibt er auch dort stehen und wartet.

Bis wir den Irrtum erkennen, und vergeben können, daß wir uns selbst und ihn so gesehen haben.
Das ist dann das nächste Paradox: Weil es in Wahrheit nur einen Gottessohn gibt, vergebe ich dem einen Gottessohn, daß ich ihn als Leidenden wahrgenommen habe. Ich mußte ihn als Leidenden wahrnehmen, weil ich mich selbst als Leidenden wahrgenommen habe. Der einzige Trost, der mich damals erreichen konnte, war die Wahrnehmung von einem Gottessohn, der mit mir leidet. Eigentlich völlig verrückt, aber das war damals die einzige Form, in der ich Gottes Liebe an mich heranlassen konnte. Gott wurde Mensch. Die Liebe Gottes in Gestalt von Jesus kennt keine Grenze, wo sie haltmacht und sagt: „Das ist aber jetzt ein völlig schwachsinniger Alptraum, da mach ich nicht mit! Da geh du mal alleine durch!“

Deshalb berührt uns das „Eli, Eli, lema sabahtami“ so sehr.
Selbst in der tiefsten Verzweiflung ist er noch an unserer Seite.
Aus Liebe.


jochen