(02.06.2013, 11:31)G.D. schrieb: Schön, dass jetzt alle Dinge einen Namen haben ...
Was für ein schönes Stichwort. Es weckt uralte Kindheitserinnerungen an den ursprünglichen Lernnprozess und seine zunehmende Verfeinerung. Bis hin zu dem, was wir heute "wissenschaftliches Denken" nennen.
Die Lektion zeigt auf sehr klare Weise den Prozess der Weltentstehung. Schon der erste Satz sagt alles aus:
Du lebst mit Hilfe von Symbolen.
Schon kurz nach der Geburt ging das los: die Wahrnehmung zeigt plötzlich Vielfalt. Da sind auf einmal Dinge, unterscheidbare Geräusche und später unterschiedliche Bilder. Im Laufe der Zeit werden diese Dinge mit unterschiedlichen Namen versehen, "ich" bekomme auch einen ab. Um mich herum laufen zweibeinige und zweiarmige Geschöpfe, die offenbar eigenständig und trotz heftigster Bemühungen nicht so reagieren, wie ich das will. Zumindest am Anfang nicht zeitgerecht, trotz beeindruckendem Geschrei meinerseits. Später noch nicht einmal das.
Irgendwie hatten diese Zweibeiner aber etwas, was ich nicht habe: ein Gesicht. Bis zu dem denkwürdigen Zeitpunkt im Alter von anderthalb bis zwei Jahren, als ich eine gewaltige gedankliche Leistung vollbrachte: ich nahm das Bild, das ich vor mir im Spiegel sah, drehte es gedanklich um 180 Grad und setzte es dort hin, wo ein Gesicht zu sein hatte.
Ich war "vollständig". Name und Gesicht.
Nun hatte alles einen Namen und es kamen immer mehr Namen hinzu. Jedes Ding, jeder Körper, war mit (namenlosem) Raum umgeben, wurde eindeutig bezeichnet und dadurch abgegrenzt. Ich war automatisch etwas Besonderes. Ich sah nun die Wirklichkeit, wo nichts war, und die Wirklichkeit sah ich nicht mehr. Durch die Aufteilung in Dinge/Körper und ihre Benennung entstand die Welt, die ich sehe, herausgemeißelt aus der ursprünglichen Einheit. Diese ist nun mein Feind, meine Bedohung geworden, da sie meine "Welt" sofort zerstören würde.
Ich habe dadurch meine Brüder gemacht (glaube ich): Körper mit getrennten Geistesstückchen, die in einem Fleischklops mit zwei Gucklöchern oben auf den Körpern wohnen. Die Körper spreche ich mit ihrem Namen an, und sie reagieren darauf, denn der Geist willigt ein, getrennt zu sein, denn schließlich ist die Welt der Dinge sein Werk.
Und genau hier liegt der Irrtum, der in dem Satz
Denke nicht, dass du die Welt gemacht hast angesprochen wird: An der IDENTITÄT meiner Brüder habe ich nichts geändert. Genauso wenig wie an der meinen. Ich habe meine Brüder nicht gemacht, ich habe sie nicht aus der Einheit herausgerissen, ich habe den Geist nicht getrennt. Ich habe Illusionen gemacht, getrennte Körper, die in Konflikt miteinander stehen (Konflikt ist der Motor des Trennungsgedankens). Aber ich habe keine Welt an Stelle der WAHRHEIT gemacht.
Was ich gemacht habe, ist - nichts.
Dieses Nichts wird weiterhin akribisch aufgeteilt und mit Namen versehen, die miteinander in Beziehung gebracht werden. Man nennt das "Wissenschaft". Die Dinge werden immer winziger, unsichtbarer, unverständlicher, die Namen immer artenreicher und fremdartiger. Wenn dann die Beziehungen in dem Chaos (die "Modelle") mal nicht mehr so gut passen, werden neue erfunden.
Im Chaos gibt es keine Beziehungen.
Da die Namensgebung in diesem Prozess der Welterfindung eine so große unrühmlich Rolle spielt, leitet mich die Lektion an, mich auf den EINEN NAMEN zu berufen, der mein Erbe ist. Und das Erbe aller meiner Brüder. Das NAMENLOSE hat keine Namen, aber SEIN EINER NAME wird mich zu IHM zurückfinden lassen.
Amen. Oder so.
Gregor