"Individualität" ist die Vorstellung von etwas Unteilbarem, das sich von anderem "Unteilbaren" unterscheidet. Im Zusammenhang mit Einheit sehe ich da einen Widerspruch, im Zusammenhang mit Unendlichkeit allerdings nicht: die unendlichen "Individuen" bilden eine Unendlichkeit, aber keine Einheit. Man könnte das eine Einheit "höherer Ordnung" nennen (Individuen bilden Gemeinschaften, diese Staaten, diese die Weltgemeinschaft, diese ...), aber das hat nichts mit Einheit zu tun.
Interessant ist, dass selbst die Wissenschaft bisher keine Individuen entdecken konnte: aus den Atomen wurden plötzlich Elementarteilchen, diese sind aber auch nicht unteilbar, keine "Individuen", und so geht die Suche weiter. Einfach deshalb, weil das "weltliche Denken" von Individualität ausgeht, da muss es "am Grunde" ein "Etwas" geben, einen unteilbareren Baustein.
Im Sinne des Kurses kenne ich zwei gegensätzliche Positionen: Robert Perry vom Circle of Atonement hat mal einen Artikel zu den Söhnen und dem einen Sohn geschrieben, indem er den Kurs "hart am Text" untersucht hat (beim Circle ist eine wörtliche Textinterpretation üblich). So kam er zum Postulat der Individualität in der Einheit. Schließlich werden im Kurs Brüder, Lebewesen, Söhne und dergleichen erwähnt. Ist das ein Widerspruch zu der Aussage, dass GOTT nur einen SOHN hat (T-9.VI.3:5; T-10.III.10:1)?
Kenneth Wapnick geht da einen anderen Weg und kommt dadurch zu den zwei Ebenen, auf denen der Kurs geschrieben ist. Da der Kurs hier in dieser Welt gelernt wird, muss er eine Sprache sprechen, die verstanden werden kann. Es ist kein Kurs in Glaubensfragen, keine verborgene oder geheimnisvolle Esoterik. Wer beim Lernen des Kurses den Verstand ausschaltet, wird ihn nicht lernen. Der Kurs bedient sich heftig logischer Schlüsse und zeigt das Offensichtliche, nicht das Mystische. Daher unterscheidet Wapnick einerseits die symbolische Sprache, andererseits die eindeutigen Statements der "Ebene 1". Wo beides ziemlich extrem zusammenprallt, kann man in T-27.III "Das Grenzland" sehen. So kommt also Wapnick zwangläufig zu dem Schluss, dass der HIMMEL keine Individuen umfasst.
Beide Auffassungen lassen sich nicht vereinbaren, so wenig wie die biblischen Auffassungen der Kreationisten, die die Bibel wörtlich auslegen, und der Christen, die die Symbole der Bibel interpretieren. Und so entsteht zwangsläufig ein Konflikt, der nicht auflösbar ist. Somit stellt sich mir nicht die Frage nach der Wirklichkeit von Individualität, sondern die Frage, ob ich den Konflikt will und welche Wertschätzung ihn aufrecht erhält.
Betrachte ich spirituelle Erlebnisse, ist da weit und breit nichts von Individualität spürbar, nur Einheit. Ich habe auch noch nie was in einschlägigen Beschreibungen von Einheitserlebnissen gelesen, die gleichzeitig Individualität beschreiben. Höchstens als Illusion.
Schaue ich mich um, sehe ich Gestalten mit Gesichtern. Schaue ich in einen Spiegel, sehe ich "mein Gesicht" (aber nur "da", nicht "hier", wo kein Gesicht ist). Gibt es da einen Unterschied? Sind das nicht alle "meine" Gesichter? Gehe ich in ein Spiegelkabinett, sehe ich unendlich viele Figuren mit Gesichtern. Sind das alles Individuen, "hinter" denen sich "individuelle Seelen" oder "Geistteilchen" befinden? Oder sind das Spiegelungen, Sichtweisen, Vorstellungen, Erinnerungen, Bilder ohne Substanz, also ohne Wirklichkeit?
Irgendwie kann ich mit der Individualität in der offensichtlichen Einheit nichts anfangen.
Gregor